Heeeelloooo, cooooome iiiiin!

Einkaufen im Basar

 

Ein Besuch in Istanbul sollte als Bildungsurlaub eingereicht werden können, denn diese Stadt ist gut für die Persönlichkeitsbildung. Was, das glaubst du nicht? Dann solltest du dringend weiterlesen! Ich werde es dir erklären.

 

 

 

 

Istanbul schult die Willensstärke. Wo immer ich lang flatterte, ständig wurde ich von irgendwelchen Schleppern mit einem ins Unendliche gezogenen: „Heeeelloooo, cooooome iiiiin!“ angesprochen. Alle wollten, dass ich irgendetwas kaufe: Schals, Teppiche, Lederjacken, Keramik… Kaum hatte ich den einen hinter mir gelassen, kam der nächste an. Um diesen ständigen Attacken standhalten zu können, muss man schon genau wissen, welche Andenken man wirklich mitnehmen will und welche nicht. Für mich war das zum Glück einfach. Was soll ein Rabe bitteschön mit einem Teppich? Ich kann selbst fliegen. Oder mit einer Lederjacke, wo ich doch so einen tollen wärmenden Flokati habe, der noch dazu fest gewachsen ist? Oder mit einem Schirm, den ich nun beim besten Willen nicht halten kann? Hätten sie mir einen Schnabelschleifer oder einen Krallenknipser angeboten, wäre das schon etwas anderes gewesen. Haben sie aber nicht. So ging ich durch die Gassen verschiedenster Basare, lehnte beständig jedes Kaufangebot ab und stählte meine Willensstärke.

 

 

Die Decke vom Großen Basar
Die Decke vom Großen Basar

 

 

Genauso ist das beim Handeln: Schon wenn du ein Angebot bekommst, musst du wissen, wie viel du bereit bist auszugeben, damit du blitzschnell überlegen kannst, ob der Preis mit diesem Angebot zu erreichen ist. Wenn ja: Beginne zu handeln, habe dabei immer deinen Zielbetrag fest vor Augen und setze ihn willensstark durch.

Warum ich nicht einfach losgeflogen bin, um sie abzuhängen, fragst du dich? Meine Gegenfrage: Schon mal probiert in einem überdachten Basar?

 

 

 

 

Istanbul schult die Konsequenz. Obwohl ich wusste, was ich will (und was nicht), musste ich immer noch für die Durchsetzung meines Willens kämpfen, indem ich immer wieder genau darauf bestand. So geschehen beim Süßigkeitenkauf: An einem Stand im ägyptischen Basar erbitte ich eine Mischung von allen Leckerlis vor dem Stand, genau zwei von jeder Sorte. Der junge Mann nimmt eine völlig überdimensionierte Schachtel und packt von der ersten Sorte eine beherzte Handvoll hinein. „Immer nur zwei“, krächze ich. Prompt fragt er, ob auch ein Tütchen als Verpackung genügt. Ich nicke.

 

 

Im Süßigkeitenmeer!
Im Süßigkeitenmeer!

 

 

Da er offensichtlich mit einer überdimensionierten Menge kein Geschäft mit mir machen kann, preist er ungefragt seine Schätze im Laden an und stürzt hinein, so dass mir nichts anderes übrig bleibt, als ihm zu folgen. Er hält mir Spezialitäten mit Honig vor den Schnabel. Sehen genauso aus, wie die draußen, kosten aber das Dreifache. Zum Glück fällt mir siedend heiß meine „Honigallergie“ ein, so dass ich konsequent auf den Zuckerleckerlis vor dem Laden bestehe. Also pilgern wir beide wieder nach draußen. Ich habe ihm wohl endlich konsequent genug klar gemacht, dass er mir nichts aufschwätzen kann und nun packt er brav von jeder Sorte zwei Leckerlis in die Tüte. Stolz ziehe ich ab.

 

 

 

 

Istanbul schult die Fantasie und die Schlagfertigkeit. So wie ich die teuren Süßigkeiten mit meiner spontan aufgetretenen Honigallergie abgewehrt habe, kann man auch sonst mit den richtigen Worten schnell wieder seine Ruhe haben. Einen Restaurantschlepper wurde ich sofort wieder los mit den Sätzen: „Danke, ich habe gerade drei Regenwürmer gefressen. Ich bin satt.“ Oder dem Schalschlepper entgegnete ich: „Ist doch viel zu warm heute für einen Schal.“ – „Für morgen!“, rief er mir hinterher, ebenso schlagfertig.

 

 

Auch klebrig-süßen Tee kann man sich aufschwätzen lassen. Aber Pause muss sein!
Auch klebrig-süßen Tee kann man sich aufschwätzen lassen. Aber Pause muss sein!

 

 

Istanbul schult die Geduld. Unter den Schleppern gibt es solche und solche. Solche sprechen jeden erst einmal an, auch kleine Raben. Wenn ich dann aber ablehnte, wendeten sie sich sofort dem nächsten zu. Die anderen wirst du nicht so leicht los. Die suchen sich gezielt Opfer aus, die sie für leichte Beute halten. Ein Reiserabe hat wohl auf viele von ihnen eine im wahrsten Sinne des Wortes ansprechende Wirkung. Diese Leute wurde ich nicht ganz so einfach los wie die erste Sorte. Ich bin für einen höflichen und würdevollen Umgang zwischen Mensch und Tier, deshalb habe ich mich in Geduld geübt und immer wieder freundlich abgelehnt. Und noch einmal. Und noch ein letztes Mal, immer noch wenigstens halbwegs freundlich. Irgendwann zieht dann doch jeder ab und visiert sein nächstes Opfer an.

 

 

Im alten Teil des Großen Basars
Im alten Teil des Großen Basars

 

 

Ich ahne, was dir nach dem Lesen der letzten Absätze auf der Zunge liegt: „Sag mal, Ernesto, nerven dich die ganzen Schlepper denn nicht?“ – Nein. Sie machen mich vielleicht etwas müde, aber nerven tun sich mich nicht. Ich sehe sie einfach als sportliche Herausforderung. Als persönlichkeitsbildendes Training. Womit wir doch glatt wieder bei den ersten Worten dieses Artikels wären.

Und, wie ist es? Glaubst du mir jetzt, dass Istanbul deine Persönlichkeit stärkt?

 

 

Der Imam fiel um.
Der Imam fiel um.

Infos:

 

In Istanbul war ich im April 2012.