Nur das Genie beherrscht das Chaos

Verkehr

 

 

Wie ein temporeicher Roadmovie ziehen diese Bilder an mir vorbei. Mein Schnabel klebt an der Scheibe und meine Augen an dem vorbeiziehenden bunten Treiben auf der Straße. Immer wieder staune ich und kann mich nicht satt sehen! Es gibt so viel zu entdecken auf und neben der Straße! Heute sitze ich im Bus, denn ich bin viel geflogen die letzten Tage und zur Abwechslung will ich ein typisch kambodschanisches Verkehrsmittel nutzen: Den Kleinbus. Überall flitzen diese kleinen 9-Sitzer über die Landstraßen, sie sind die wichtigsten Überlandverbindungen der Khmer. Meistens sind sie vollgestopft mit Menschen und ihrem Gepäck. „Es werden erst dann keine Passagiere mehr aufgenommen, wenn sich der Beckenknochen deines Nachbarn in dein Fleisch bohrt“, hat mir mal ein Mitfahrer gesagt. Zum Glück kann ich recht unbehelligt auf der Rückenlehne hocken, direkt hinter der Scheibe. Um mich herum die anderen Fahrgäste und ihr reichhaltiges, vielfältiges Gepäck.

Überschüssige Bagage wird außen angebracht und zwar so lange, bis das Fahrzeug förmlich in die nicht vorhandenen Knie geht.

 

 

 

 

„Überladen“ ist sowieso ein allgegenwärtiges Faszinosum auf Kambodschas Straßen. Drei ausgewachsene Kambodschaner auf einem Moped sind hier keine Seltenheit. Ich habe auch schon fünf gesehen: drei Erwachsene und zwei Halbwüchsige. Ich bin ihnen einen Kilometer lang hinterhergeflogen und habe immer wieder ungläubig gezählt. Auf Anhängern von Mofas werden ganze Doppelbetten und Sitzgarnituren transportiert. Auf der Ladefläche eines kleinen Lasters hocken einige völlig schwarz verkrustete Ölfässer. Zwar sehe ich regelmäßig Polizeikontrollen für Lastwagen, die tatsächlich die Ladung überprüfen. Aber die scheinen eher eine zusätzliche Einkommensquelle für die ausführenden Beamten zu sein als eine wirksame Sicherheitsmaßnahme.

 

 

 

 

Mit Hingabe studiere ich außerdem das Funktionieren des Verkehrs. Wenn ich über den Straßen fliege, geht das besonders gut. Im Bus dagegen ist es abenteuerlicher und spannender, weil potenziell die Gefahr besteht, dass mein Transportmittel in einen Unfall verwickelt wird. Auf jeden Fall stelle ich fest: Funktionieren tut er, der Verkehr – auch wenn es für mich erst einmal nicht so aussieht. Jeder fährt da, wo gerade Platz ist und dabei ist es völlig wurscht (sagt ihr das so?), wo das ist. Das kann auf der entgegenkommenden Spur sein, zwischen den Fußgängern auf dem unbefestigten Seitenstreifen oder auch am linken Straßenrand. Überholt wird auch, wenn Gegenverkehr kommt, schließlich kann der ja auf den staubigen Seitenstreifen ausweichen. Das tut der dann aber auch bereitwillig. Niemand besteht hier darauf, auf seiner Spur zu bleiben, solange noch Platz zum Ausweichen da ist. Niemand bricht sich hier einen Zacken aus der Krone, wenn er bremst um anderen die Weiterfahrt zu ermöglichen. In dieser Hinsicht ist man hier sehr entspannt und findet es nicht schlimm, wenn man eventuell sein Ziel 34 Sekunden später erreicht oder ein anderer schneller vorankommt. So ist es halt. Nur stehenbleiben gilt nicht, höchstens an Ampeln oder wenn tatsächlich kein Durchkommen ist. In der Stadt kommt das durchaus mal vor.

 

 

 

 

Schau dir die Fotos nun noch einmal an und achte jetzt einmal darauf, welche Kategorien von Fahrzeugen so nebeneinander her verkehren. Der folgende Schnappschuss ist eine schöne Zusammenfassung des Spektrums, finde ich:

 

 

 

 

Ich habe auch mal das archaischste Fahrzeug genutzt, den Ochsenkarren. Unterwegs war ich hier im Tempelgebiet Sambor Prei Kuk. Fühlt sich lustig an - wie Turbulenzen beim Fliegen, besonders am Schluss des Films werdet ihr verstehen, warum:

 

 

 

 

Apropos „unbefestigter Straßenrand“: Den gibt es auch noch und der ist mindestens genauso sehenswert! Ich kann mich kaum entscheiden, wohin ich zuerst gucken soll: Seitenstreifen oder Verkehrsgeschehen. Jetzt ist aber mal der Straßenrand dran. Ich schaue in die offenen Läden, in denen glitzernd eingepackte Fahrradreifen, Solarzellen, haltbare Lebensmittel, Haushaltswaren, Mopeds, Geisterhäuschen, Plastikstühle, Reissäcke, kleine Arbeitsgeräte, Kleidung… verkauft werden. Radfahrer, Fußgänger und TukTuks tummeln sich im Staub zwischen der Häuserfront mit den Läden und dem fließenden Verkehr auf dem Asphalt. Immer wieder entdecke ich dort ganze Horden von Schülern in Uniform, die mit dem Fahrrad zur Schule fahren oder zurückkommen. Ich kann immer sehr genau feststellen, wo die Schule ist: Erst kommen sie uns nämlich alle entgegen und ab einem bestimmten Punkt fahren sie alle in die gleiche Richtung wie mein Bus. Genau an diesem Punkt muss die Schule sein. Jüngere Kinder spielen im Straßenstaub – auch direkt an den Nationalstraßen, den viel und flott befahrenen Überlandverbindungen.

 

 

 

 

So hocke ich im Bus und irgendwann halte ich das Bombardement von Momentaufnahmen, das mich durch das Fenster attackiert, nicht mehr aus. Nach fünf Stunden wird es einfach doch mal zu viel – selbst für einen furchtbar neugierigen Reiseraben. Deshalb schließe ich meine großen Augen und versuche, die Eindrücke zu ordnen:

Es sieht für europäisches Empfinden überhaupt nicht so aus, aber der Verkehr funktioniert. Das wichtigste Motto scheint zu sein: „Immer in Bewegung bleiben.“ Alles ist im Fluss und im Zusammenspiel mit den anderen wird stetig das eigene Ziel verfolgt. Das ist gar nicht so schwierig, wie es aussieht. Man darf halt nur nach vorne schauen und sich nicht zu schnell fortbewegen. Wenn sich jeder daran hält, klappt es. Diese Regeln kenne ich doch… hmmmm… Der kambodschanische Verkehr funktioniert wie… ja, wie ein Vogelschwarm! Unter uns Gefiederten nennen wir das „Schwarmintelligenz“: Sich mitten im großen Schwarm und mit ihm fortzubewegen und dabei trotzdem das eigene Ziel zu verfolgen.

 

Hummelstark, dass es Menschen gibt, die sich an tierischem Verhalten orientieren und bereit sind, von uns zu lernen! Das ist Bionik im Alltag! Ihr könntet das auch mal versuchen, liebe deutsche Autofahrer. Das entspannt.

 


Infos:

Was zum Kuckuck ist Bionik? - Die Bionik (auch Biomimikry, Biomimetik oder Biomimese) beschäftigt sich mit dem Übertragen von Phänomenen der Natur auf die Technik. Du willst noch mehr darüber wissen?

 

In Kambodscha war ich zum Jahreswechsel 2015/16.