„Mein Lieblingsort?“ Mario wird still. Bisher haben wir uns angeregt unterhalten über die portugiesische Aussprache, über Frankfurt und er hat mir ein bisschen aus seinem Leben erzählt. Aber über meine Frage nach dem persönlichen Lieblingsort in seiner Heimatstadt kommt der junge Lissabonner regelrecht ins Grübeln. Lustigerweise habe ich schon öfter bemerkt, dass die meisten von euch Zweibeinern diese Frage nicht spontan beantworten können. Doch plötzlich erhellen sich Gedanken und Blick. „Alcântara!“, gibt er an. „Da bin ich am liebsten! Das ist ein tolles Partyviertel, in den Docks gibt es viele gute Clubs und die LX-Factory ist jetzt wieder modern. Und dort sind viele Einheimische.“
Ich treffe Mario am ersten Abend meines Aus-Fluges und zwar auf einem der vielen Aussichtspunkte Lissabons. Ich habe eine Menge Orte im Kopf, an denen ich mich in den nächsten Tagen herumtreiben möchte. Alcântara ist durchaus dabei, aber der Tipp meines Gesprächspartners schiebt den Stadtteil unter der roten Brücke auf meiner Rangliste um ein paar Plätze nach oben. Und natürlich bringt mir Mario bei, dass der Name „Alcantre“ ausgesprochen wird, mit der Betonung auf der zweiten Silbe.
Eines Mittags ist es soweit. Am Tejo entlang flattere ich nach Südwesten Richtung Meer. Verbrauchte Lagergebäude tauchen auf und monströse Kräne. Einfache Häuserfronten reihen sich entlang der Straßenzüge auf und die Menschen sehen einheimisch aus. Alcântara ist ein altes Hafenviertel und seine Bewohner arbeiteten zeitlebens in den Lagerhallen und Docks.
Doch Mario hat Recht: Tatsächlich entdecke ich die LX-Factory, die -zusammen mit den Clubs in den Docks- auf dem Wege ist, dem Viertel ein neues Gesicht zu geben. Am späten Donnerstag Mittag ist hier durchaus etwas los. In den Lokalen sind viele Tische besetzt, auf dem Gelände bummeln Zweibeiner herum und stöbern in den Geschäften sowie Galerien. Die meisten von ihnen sind Touristen und die Stimmung ist gelöst.
Es gibt einen Buchladen, so groß, dass in ihm eine gesamte Flamingokolonie Platz finden würde. Eine Galerie stellt Werke von ogringo75 aus, dessen Azulejo-Adaptionen mir schon an vielen Fassaden Lissabons aufgefallen sind. Ich entdecke hippe Klamottenläden und Geschäfte mit ökologischen, fairen, urbanen und weiß-der-Geier-wie angesagten Marken. Es gibt Ateliers, Büros von Start-ups und einen... na, ich sage mal: Flowertruck, also einen zum Blumenlädchen umfunktionierten Transporter. Selbst die Toiletten sind stylisch, wie mir mein schlaues Buch berichtet.
Früher war dies eine Stofffabrik und nachdem das Unternehmen das Zeitliche gesegnet hatte, verkamen die Gebäude zunehmend. Heute sind sie durch die Umnutzung gerettet. So ist das weltweit schon in vielen Stadtteilen großer urbaner Ansiedlungen geschehen: In Berlin-Kreuzberg oder Frankfurt-Sachsenhausen, um mal bei Beispielen Deutschlands zu bleiben. In der Folge zeigen wichtig-popichtige Leute Wohninteresse an diesen Gegenden und sind bereit sowie in der Lage, viel Geld dafür zu zahlen. Die Immobilien werden renoviert, saniert oder sonstwie aufgewertet. Die Wohnpreise steigen und steigen. Gentrifizierung nennt ihr das, soweit ich das mitgekriegt habe. Mittendrin bis fortgeschritten in diesem Prozess sind Lissabons Alfama und Mouraria: Von der No-go-area zum beliebten Touristenviertel.
Mit diesen Bildern nehme ich dich mit auf einen Aus-Flug nach Marvila, einem Lissabonner Stadtteil zwischen Azulejomuseum und Parque das Naҫões. Warum, erfährst du in den Untertiteln, wenn du die Bilder anklickst.
Aber egal, ob und wie sich Alcântara verändern wird, eines wird noch laaaaaaange Zeit bleiben: Die Brücke - die rote Brücke (Volksmund), die Brücke des 25. April (offizieller Name). Für mich ist sie hier allgegenwärtig. Sie legt ein verkehrsreiches Summen über sämtliche Straßen und Wohnhäuser im Umkreis. Mit überraschendem Auftauchen in absurd wirkenden Höhen zieht sie den Blick immer wieder nach oben. Ich bezeichne Alcântara immer als den „Stadtteil unter der Brücke“.
Einen der Brückenpfeiler könnt ihr sogar bis auf die Höhe der Fahrbahn (rund 70m über dem Grund) besichtigen. Ich nähere mich ihr flatternderweise an. Langsam wird das Summen lauter, geht in ein deutlicher werdendes Brummen über und wächst schließlich zu einem ordentlichen Getöse an. Letztendlich hocke ich oben auf der Plattform und direkt neben mir braust der Verkehrssturm vorbei, sodass ich kaum mein eigenes Krächzen höre, das ich testweise ausstoße. Drei Fahrbahnen für jede Richtung sind es und früher war nur die jeweils äußerste asphaltiert. Die beiden inneren bestanden aus Gitterrosten. Der Lärm ist ohrenbetäubend, besonders an der Dehnungsfuge gleich neben dem Pfeiler. Wenn ein Auto, Laster oder Bus sie quert, hört sich das an wie eine eingeklemmte Fliege bei dem Versuch, sich durch intensives Flügelschlagen zu befreien, nur eben viiiiiieeeel lauter. So mag dies wohl einen Eindruck von der Geräuschkulisse mit den ehemaligen Gitterrosten geben. Ui!
Zwei atemlos ankommende Touristinnen reißen mich aus meinen Gedanken und meinem beeindruckten Lauschen. „Wieso schnauft ihr so?“ frage ich die beiden. „Seid ihr nicht mit dem Aufzug gekommen?“ - „Der ist kaputt“, lautet ihre Antwort. Ui! Zuerst hätten sie geflucht, aber jetzt sei es gar nicht mehr so schlimm, berichten sie weiter. Denn im Freiluft-Treppenhaus hätten sie eben auch freies Gehör gehabt und sich dem Verkehrsgetöse immer mehr annähern können ohne Gewissheit zu haben, wie viel davon denn noch kommen möge. Das sei ziemlich spannend gewesen. Gerade als sie zwischen der Straßen- und der Zugetage waren, kam eine Bahn lautstark angerattert, sodass sie dachten, von den Füßen gefegt zu werden. Ui! Prompt können sie also genauso wie ich die langsame Annäherung an die Plattform empfehlen.
Die Brücke bleibt, der Hafen geht, Neues wird kommen. Was das Neue sein wird, wird davon abhängen, wie die Gentrifizierung gelingen wird. Doch wann ist eine Gentrifizierung gelungen? Wenn die Immobilienpreise exorbitant hoch und die Schönen und Reichen aus aller Welt für ein paar Wochen im Jahr wohnhaft sind? Oder wenn sie steckenbleibt und das Quartier ärmlicher, dafür authentischer bleibt? Welche Entwicklung wünscht sich wohl Mario für seinen Lissabonner Lieblingsort? Wie zu erwarten begegne ich ihm nicht noch einmal, als ich meinen Aus-Flug auf dem gleichen Miradouro beende, an dem ich ihn mit Mario begonnen habe. Schade, das ich hätte ihn gerne gefragt.
Infos:
Lieber Ernesto, über den Azulejokünstler würde ich ja gerne mehr erfahren.
"Glücksorte in Lissabon", Christina Weise, 1. Aufl., Juli 2022, ISBN 978-3-7700-2253-3 ist mein schlaues Buch.
In Lissabon war ich im April 2025.