Ich bin verliebt! So richtig in ganz echt, in eine von euch. Carmen heißt sie. Ich hocke auf meinem derzeit allnächtlichen Schlafsims und denke an DEN Abend mit ihr.
Das Licht im Raum ist schummrig und rot. Sie singt. Sie singt, schaut mich voller Hingabe an und ich - schmelze dahin. Der Raum ist leider kein romantisches Kämmerlein, sondern eine Kneipe – und zwar mitten im tobenden Partyviertel Bairro Alto. Sie ist winzig klein, aber trotzdem umgibt uns ein Schwarm von immerhin 20 Zweibeinern. Die schauen auch alle auf Carmen, denn sie ist die Fadosängerin des Abends.
Da steht sie mit ihrer schwarzen Glitzerhose, ihren schwarzglänzenden und zu einem strengen Dutt zurückgezogenen Haaren, dem länglichen und etwas kantigem Gesicht mit dem markanten Kinn. Ihre klangvolle Stimme flutet den Raum bis ins letzte Winkelchen, manchmal glaube ich gar, die Wände ein bisschen wackeln zu sehen. Das ist immer dann der Fall, wenn ihn ihrem Lied großes Drama angesagt ist, aber sie kann auch so leise intonieren wie eine Meise. Innerhalb von wenigen Tönen reist sie mit ihrer Stimme durch sämtliche Lautstärken. Dabei schließt sie die Augen, breitet die Arme aus, kreuzt sie vor der Brust, blickt in den Himmel (genaugenommen die Decke des Lokals). Intensiv lässt sie sich von der Musik mitrei-, nein, sie IST die Musik. Sie ist sie so intensiv, dass sie uns alle tief berührt mit ihren Klängen. Als sie dann noch vom „corvo“ (portugiesisch für Rabe) singt und mich dabei unverwandt und fast liebevoll anschaut, ist es um mich geschehen.
Der Start in dieses akustische Abenteuer ist lang. Als das Wirtshaus öffnet, hat sich schon eine Schlange wartender Menschen gebildet. Streng nach Reihenfolge wird eingelassen. Ich bin Nummer 20, nach mir ist noch Platz für weitere 5 Zweibeiner, dann ist Bude voll. Nacheinander dürfen wir Getränke und einfache Gerichte bestellen. Schon beim Servieren fällt Carmen durch ihren Glitzerdress und die Schminke auf.
Später, als die zweite Trinkrunde frisch gezapft auf den Tischen steht, beginnt das Zeremoniell mit theatralischem Ernst. Die Tür zur lärmenden Straße wird geschlossen. Die Gitarristen beginnen ein entspanntes Vorspiel. Das Licht wird gedimmt und rot gemacht. Dann betritt Carmen die „Bühne“, also die kleine freie Stelle zwischen Thekeneingang, Gitarristen und Gästetischen. Es ist eng. Mit zwei Schritten hat die schwarzglitzernde Sängerin die Bühne überquert, einer der Gitarrenhälse gibt dem nächstsitzenden Gast fast einen Kinnhaken. Mit einem Crescendo erspielen sich die Gitarristen die Aufmerksamkeit der Anwesenden. Wer nicht still genug wird oder am Handy daddelt, wird ermahnt. Fado ist eine todernste Sache.
Dann erhebt Carmen ihre Stimme und nimmt uns gefangen. Häufig sind die Lieder getragen und melancholisch, wie man es als Tourist erwartet. Aber es gibt auch immer wieder beschwingtere Weisen. Ihnen allen ist eines gemeinsam: Ein fulminantes Ende.
Viel zu kurz ist Carmens Auftritt. Nach nur drei Liedern müssen wir wieder in die hiesige Welt zurückkehren. Der Lokalbetrieb geht weiter, Carmen bedient wieder. Die meisten Gäste gehen, neue kommen. Die Warteschlange draußen reißt nicht ab. Ich bleibe. Alle wollen rein und ICH bin drin! Dass neben Carmen auch noch ein Senior seinen Gesang zum besten gibt – geschenkt. Er singt gut, seine Präsentation weniger emotional, dafür sehr altehrwürdig und passt genauso gut zum Fado, wenn auch auf ganz andere Weise.
Als ich die kuschelige Lokalität nach Carmens letztem Auftritt verlasse, begegnen wir uns an der Tür. Sie schaut mich an, streicht mir über den flauschigen Kopf und sagt ein paar freundliche, leider portugiesische Worte zu mir. Und so hocke ich nun auf meinem gemütlichen Schlafsims, der mir heute noch ein bisschen gemütlicher erscheint, weil ich so sehr von Carmen träume.
Infos:
Ernesto, du hast beim Hochladen die Bilder vergessen! Nein, hab´ ich nich... - naja, also eigentlich schon. Vor lauter Aufregung hab´ ich nämlich vergessen, überhaupt welche zu machen.
In Lissabon war ich im April 2025.