Einen Abend verbrachte ich in der Veranstaltung „Wiener Geschichte – Anfängervorlesung“. Eigentlich war ich auf eine Geburtstagsparty eingeladen, aber mein Sitznachbar und Gesprächspartner war schuld daran, dass ich mich als Student an der Universität wähnte. Er redete nämlich so unablässig und monoton in breitem Wienerisch auf mich ein, dass die Bezeichnung „Gesprächspartner“ nicht der richtige Ausdruck war. „Privatdozent“ traf die Sache wohl eher. Jedenfalls hielt er mir einen mindestens 90-minütigen Vortrag über die glorreiche Zeit der Stadt samt ihrer umfassenden Macht und den Errungenschaften aus dieser Epoche, die das Leben in Wien auch heute noch prägen. Da es weder Folien zum Mit-, noch ein Skript zum Nachlesen gab, habe ich die Inhalte des Referates sofort wieder vergessen. Außerdem fiel mir das Zuhören schwer, da meine Ohren auf ein Rätsel stießen, das meine Gedanken unaufhörlich beschäftigte: Immer wieder riss mich das Wort „Käsereich“ aus dem höflichen Bemühen, mich auf die Rede meines Privatdozenten zu konzentrieren. Käsereich? Käsereich, was soll das sein? Waren seine Bewohner käsesüchtig und aßen nichts anderes? War es die größte Käseexportnation aller Zeiten? War dort vielleicht überhaupt alles aus Käse? Verheißungsvolle Bilder breiteten sich vor meinem inneren Auge aus. Ein ganzes Reich aus Käse: Flüsse, Wege, Häuser, ganze Schlösser, ja: Berge! Alles aus Käse. Wie einfach wäre es da, von einem Ort an den anderen umzuziehen: Man überlässt das alte Haus einfach seinen Fressfeinden in Form von Nachbarn, dem Hungerhaken von drei Straßen weiter und diversem Getier. Man kauft sich an seinem neuen Wohnort Käseräder und kann das neue Haus ohne die Hilfe von Handwerkern bauen, weil der Käse nur in große Quader gesäbelt und die Seiten mit dem ortseigenen riesigen Käsefonduerechaud angeschmolzen werden müssen, damit sie nach dem Stapeln aneinander kleben.
Die Welt wäre ganz gelb. Es gäbe gar keine anderen Farben. Nur 9 376 437 364 085 verschiedene Gelbtöne: Appenzellergelb, goudagelb, munstergelb, handkäsegelb, tilsitergelb, esromgelb, camembertgelb, bavariabluegelb……… Rabenschnabelgelb gäbe es natürlich auch. Nur der Himmel wäre blau, und zwar schimmelblau. Niemand im Reich müsste hungern, weil alles aus Käse ist und das Müllproblem wäre auch gelöst: Jeder isst einfach die Käsegegenstände auf, die er nicht mehr braucht: Staubfangende kleine Engelsfigürchen –einst von der Schwiegermutter geschenkt-, defekte Elektrogeräte, der alte Fernseher mit dem kleinen Bildschirm, das Kleid, das eh ein Fehlkauf war und seit Jahren unberührt im Käseschrank hängt. Unaufhaltsam suchten mich diese Phantasien heim, während mein Privatdozent immer weiter vom Käsereich erzählte. Schließlich kam er auf die Käserin zu sprechen und als er ihren Namen nannte –Sisi-, traf mich die Erkenntnis wie ein Donnerschlag im Flug: Er sprach die ganze Zeit vom „Kaiserreich“! Na, logisch. Wovon spricht der Wiener denn sonst so unendlich lange? Durch die breite wienerische Aussprache wurde das „ai“ zum „ä“ und damit das „Kaiserreich“ zum „Käsereich“. Schade eigentlich, mir hat mein „Käsereich“ gefallen.
Infos:
In Wien war ich im Juni und August 2011 sowie im Oktober 2019. Diese Reportage ist von 2011, stimmt aber immer noch.